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Wenn die Tinte noch frisch ist

Composer in Residence & Ink Still Wet

Veröffentlicht: 02/11/2023

Man sitzt am 22. Dezember, zwei Tage vor Weihnachten, in einem schlecht geheizten Publikumsraum, eingepfercht zwischen frierenden Leuten – und alles nur, um die allerneueste Musik zu hören, die sich ein:e Komponist:in davor ausgedacht hat. Würden Sie sich das antun?
Viele hunderte Wiener:innen taten sich das an, als sie 1808 einer von Beethovens berühmten Akademien beiwohnten. Auf einen Streich erlebten sie einige Uraufführungen, darunter die Symphonie Nr. 5, die Chorfantasie, das Klavierkonzert Nr. 4 und die Symphonie Nr. 6 «Pastorale». Für die meisten lohnte sich der Besuch im kalten Theater an der Wien.

Es ist eine Eigentümlichkeit in unserem Kulturleben, dass bei Büchern, Filmen, Mode, Architektur und anderen Sparten im Grunde immer das Neueste vom Neuen interessant ist. Wir wollen vorn dabei sein und mitreden können. Die Musik ist anders: Für Mozart und Brahms ist meistens reichlich Platz, «neue Sachen» kommen nur dann und wann vor. Die Musik bietet uns einen kaum noch zu überblickenden Schatz, an dem wir uns jeden Tag aufs Neue bedienen könnten. Trotzdem richtet sich der Konzertbetrieb häufig gerne an der Vergangenheit aus. Die Vielfalt der Jahrhunderte bedeutet in der Musik nicht immer die Vielfalt an Auswahl.

Hineinhören in die Welt

Die Musik bewirkt viele Wunder. Eines davon ist, dass sie in kürzester Zeit die Menschen zu sich zieht. Nirgendwo ist die Aufmerksamkeit so gebündelt und die Atmosphäre so umarmend wie im Konzertsaal. In den allerbesten Fällen geht man am Ende mit einem Gefühl der Gemeinsamkeit nach Hause und alle wissen, dass sie jetzt gerade etwas Wunderbares miteinander erlebt haben. Dieser verbindende Geist bildet sich immer, ob im Stadion oder bei Festivalkonzerten am Wolkenturm – die Musik führt uns zusammen wie kaum eine andere Kunstform.
Auch wegen dieses kleinen Wunders ist die Frage wichtig, woher die Musik eigentlich kommt, die wir so lieben. Die Antwort ist scheinbar banal: Von Komponist:innen, die seit Jahrhunderten immer neue Tonkunstwerke schaffen. Diese werden zu Papier gebracht, vervielfältigt, geprobt und aufgeführt. Dieser Vorgang ist im Grunde immer der gleiche, nur hat die Technik alles schneller und einfacher gemacht. Es beginnt alles mit Ideen in den Köpfen der Komponist:innen. Ihre Arbeit findet in aller Stille und Einsamkeit statt. Bis zum großen Orchestertutti dauert es da noch lange. Aber der Vorgang, Musik neu zu denken und damit Neue Musik zu schaffen, ist ein ganz besonderer Moment in dieser Geschichte.

In der Musik zuhause – Composer in Residence

© Beatrice Schreiner

Grafenegg pflegt zur Tradition ein ausgezeichnetes Verhältnis. Dazu gehört die Vergangenheit ebenso wie das Gestalten unserer Umgebung – hier und jetzt. Seit dem Beginn 2007 ist deshalb in jedem Festivaljahr ein Composer in Residence zu Gast. Die Komponist:innen kommen aus den Nachbarländern, aus Europa, den USA, China und Australien. Die Institution Composer in Residence holt die Welt nach Grafenegg und bringt Grafenegg in der Welt ein Stück vorwärts.

Während ihrer Residency werden im Festival bestehende Werke des Composer in Residence in das Programm eingebaut. Ein fixer Partner dabei ist das Residenzorchester, das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich; aber auch in den Programmen namhafter Gastorchester findet sich so manches Werk der Composer in Residence. Das Grafenegg Festival legt großen Wert darauf, dass Neues entsteht. Deshalb komponieren sie immer auch ein Auftragswerk, das hier seine Uraufführung oder Österreichische Erstaufführung erfährt: ein neues Stück Musikgeschichte also.

Morgen beginnt schon heute – Ink Still Wet

Als Composer in Residence hat man schon Karriere gemacht und kann auf das Erreichte zurückblicken. Hier setzt der 2011 von HK Gruber (damals Composer in Residence) ins Leben gerufene Composer-Conductor-Workshop Ink Still Wet (ISW) an. Aufstrebende Komponist:innen haben die Gelegenheit, ihre eigenen Werke mit dem Tonkünstler-Orchester einzustudieren und im Rahmen eines Konzerts uraufzuführen. Ein Angebot, das seinesgleichen sucht. Der Composer in Residence wählt aus allen Einreichungen meist fünf oder sechs Teilnehmer:innen aus, die nach Grafenegg eingeladen werden. Was sie in ihren Partituren bisher festgehalten haben, bekommt unter der Leitung der Composer den Feinschliff: Fragen zur richtigen Notation, zum effizienten Nützen der Probenzeit und zur klaren Kommunikation mit den Mitgliedern des Orchesters beschäftigen für die Dauer des Workshops alle Beteiligten. 

Eine erste Begegnung gibt es bereits im Frühjahr, wenn der Composer in Residence den Entstehungsprozess begleitet und die Werke noch nicht vollständig sind. Der Composer in Residence ist einmal Sparringpartner:in, dann wieder Lehrer:in, Kritiker:in und manchmal vielleicht auch Vorbild.

© Sebastian Philipp
«Über die Jahre hat Ink Still Wet in kleinen Abwandlungen stattgefunden und dabei immer seinen Grundcharakter bewahrt, nämlich ein Sprungbrett für die nächste Generation zu sein.»

Während des Aufenthalts im Sommer bietet Grafenegg den ISW-Teilnehmer:innen rund um die Orchesterproben auch weiterführende Veranstaltungen an: Vorträge, Workshops und natürlich der Besuch aller Konzerte in dieser Zeit machen Ink Still Wet zum Meilenstein auf dem jeweiligen Berufsweg. Nicht wenige sind mit der immensen Herausforderung, erstmals ein Symphonieorchester zu dirigieren und ein eigenes Werk uraufzuführen, über sich selbst hinausgewachsen.
Das Abschlusskonzert ist auch das Finale des Workshops: In weniger als 90 Minuten werden fünf oder sechs neue Werke uraufgeführt. Die Atmosphäre bei diesem Konzert ist etwas Besonderes; da liegt Neugier und Erwartung in der Luft, wenn jeder Moment etwas Neues bringt. Nach dem Konzert geht der eigene Weg wieder weiter: Die Chancen stehen gut, dass Musikfreund:innen den einen oder anderen Namen in ein paar Jahren an anderer Stelle wieder hören werden.
Die Komponist:innen haben ihre Zeit in Grafenegg immer mit einer persönlichen Note versehen und für frischen Wind gesorgt. Dirigiertraining, Atemübungen, lebhafte Diskussionen oder manchmal eine Meditation – über die Jahre hat Ink Still Wet in kleinen Abwandlungen stattgefunden und dabei immer seinen Grundcharakter bewahrt, nämlich ein Sprungbrett für die nächste Generation zu sein.

Galerie der Komponist:innen

Wer sich ein Bild aller bisherigen Composer in Residence in Grafenegg machen möchte, besucht am besten die Schlossbibliothek. Dort hat Schlossbesitzer Tassilo Metternich-Sándor für jeden Composer in Residence einen verglasten Schaukasten reserviert; darin zu sehen ist ein Portrait, eine signierte Seite der Partitur des Auftragswerks und eine historische Abbildung der Baumarten, die von den Komponist:innen selbst im Schlosspark gepflanzt wurden. Wenn man während eines Streifzugs durch die Bibliothek die Partituren anschaut, kann man sich vorstellen, wie diese Noten am Wolkenturm erklungen sind und im Lauf der Jahre viele tausend Menschen erreicht haben. Zwei der Composer in Residence sind schon verstorben. Umso schöner ist es, ihre Handschrift in Grafenegg noch sehen und hören zu können. Man darf sich auf die Zukünftigen in dieser Reihe freuen und darauf, dass sie ihren Platz am Puls der Zeit behalten, weiterhin gut zuhören, was sich in der Welt tut und unserer Gegenwart eine Stimme verleihen.

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