Der vielschichtige Klang des Exils
Von Irene SuchyVeröffentlicht: 02/11/2023
Lange haben wir sie nicht vermisst, die Vertriebenen, Ermordeten, Verstummten. Das Wirtschaftswunder musste aufgebaut werden, 1945 wurde das Jahr Null ausgerufen: ein Neuanfang, der die Kontinuitäten der NS-Zeit verdecken sollte. Dass ein Krieg verloren war, in den sich die Mehrheit lautstark hineingejubelt hatte, konnte gut verdrängt werden. Die Täter wurden verehrt, sie waren schnell da, um anzuschließen an den «Anschluss»: Nach ihnen wurden Straßen und Plätze benannt, ihre Freundschaften und Kooperationen mit den Machthabern des Dritten Reiches wurden heruntergespielt, die NSDAP-Mitgliedschaften als Kavaliersdelikte betrachtet, mehr als ihre Untaten wurde ihre Unentbehrlichkeit für Österreich betont. Spät erst – viel später als andere Künste – entdeckten die Musikszene und die Wissenschaft, was sie verloren hatten: die Vertriebenen und Ermordeten, ihre Musik, ihre Ideen, ihren Beitrag zum Musikleben.
Und was bis in die 1970er Jahre auf den Unis als Thema unerwünscht war, nämlich die Forschung über vertriebene Musikschaffende, wandelte sich zum Guten: 1996 wurde der Verein «Orpheus Trust» begründet, wissenschaftliche Forschung begann, seit 2016 wird im Rahmen von «Exilarte» – Zentrum für verfolgte Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst – Forschung, Sammlung, Publikation und Lehre betrieben. Was einst verpönt war, ist nun ein Muss für angehende Musikwissenschaftler:innen: die intensive Beschäftigung mit der Musik der vertriebenen Musikschaffenden.
Es waren unermesslich viele: Eine halbe Million Menschen rettete sich aus dem Deutschen Reich, darunter viele Kunstschaffende. Die Demütigung verlief in Stufen: Ausschluss aus der Reichsmusikkammer, Verbot von Besitz von Instrumenten, Verbot der Berufsausübung, Auftrittsverbot, Kündigung der Wohnung, Einzug des Vermögens, Strafsteuern, Bedrohung des Lebens.
Robert Stolz, aus dessen optimistischem Œuvre am 13. Juli 2024 Arien zu hören sind, war einer jener, die ihren Leidensgenoss:innen mit Mut und Schläue halfen, das NS-Regime zu überleben. 1884 in Graz geboren, wurde er zum Filmmusikkomponisten in Berlin – erst nach dem Welterfolg von «Zwei Herzen im Dreivierteltakt» zum Meister der Operette und des Schlagers. Obwohl umworben von den Nazis, ging er 1936 in das austrofaschistische Österreich, distanzierte sich niemals von seinen jüdischen Textdichtern wie Fritz Grünbaum und rettete bedrohte Kolleg:innen auf zahlreichen Fahrten zwischen Berlin und Wien. 1938 entkam er in die Schweiz. 1939 war er bereits im besetzten Paris, seine fünfte Frau «Einzi» half ihm aus den Fängen der Gestapo und aus einer dreitägigen Internierung heraus. 1940 kam er in New York an, in Hollywood gewann er zwei Oscars. Den Unternehmergeist nimmt er mit, er wird zum Komponisten der Wiener Eisrevue.
Am 8. September erklingt das Tagebuch der Anne Frank in der Vertonung von Michael Tilson Thomas; es ist nicht die erste musikalische Adaption ihrer Geschichte: 2011 wurde anlässlich der wissenschaftlichen Aufarbeitung des KZs Strasshof die Mono- Oper «Das Tagebuch der Anne Frank» von Grigori Frid aufge- führt. Inszeniert im 1944 errichteten Heizhaus in einem jener Viehwaggons, in dem die jüdischen Deportierten die Reise in die Vernichtung antreten mussten. Michael Tilson Thomas, Enkel jiddischer Theatermacher in New York, möchte das Publikum mit seiner 40-minütigen Vertonung nachhaltig anregen. In seinem vierteiligen Melodram, einem Auftrag der UNICEF, deklamiert Ruth Brauer-Kvam Annes Reflexionen über die erste Liebe, die Natur, die fiktive Gesprächspartnerin Kitty bis zur historischen Ermordung und endet in einem hoffnungsvollen Schluss: «I want to go on living». Bei der Uraufführung 1990 rezitierte keine Geringere als Audrey Hepburn Annes Eintragungen. Auch wenn Tilson Thomas, der 1944 in Los Angeles zur Welt kam, seinen Großvater niemals kennenlernte, fühlt er sich der jüdischen Geschichte und Tradition verbunden.
Arnold Schönbergs Werke sind schon längst in das Konzert-Repertoire eingegangen. Am 7. September 2024, in einem Schönberg-Gedenkjahr, gibt die Sächsische Staatskapelle sein spätromantisches Opus 4 «Verklärte Nacht». Schönberg, 1874 in Wien geboren und 1951 im Exil in Los Angeles gestorben, komponierte das Streichsextett «Verklärte Nacht» 1899 in Payerbach, während eines Ferienaufenthalts mit seinem Kompositionslehrer Alexander von Zemlinsky und dessen Schwester Mathilde. Eine Liebe begann, 1901 heiratete er Mathilde, wurde Vater zweier Kinder, Gertrude und Georg. Noch stand der Schmerz der Ehekrise 1908 und des Seitensprungs Mathildes bevor, er sollte sie verlieren, obwohl er sie zur Rückkehr überredete. Mathildes Liebhaber Richard Gerstl brachte sich 1908 um, sie selbst starb 1923. Arnold Schönberg heiratete ein Jahr später wieder.
«Verklärte Nacht», ursprünglich für Streichsextett komponiert und von Schönberg selbst für Streichorchester bearbeitet, ist eines seiner innigsten Werke, inspiriert durch das gleichnamige Gedicht von Richard Dehmel.
«Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;/ der Mond läuft mit, sie schaun hinein./Der Mond läuft über hohe Eichen,/ kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,/in das die schwarzen Zacken reichen.»
Der Dichter zeigte sich 1912 hocherfreut: «Gestern Abend hörte ich die ‹Verklärte Nacht›, und ich würde es als Unterlassungssünde empfinden, wenn ich Ihnen nicht ein Wort des Dankes für Ihr wundervolles Sextett sagte. Ich hatte mir vorgenommen, die Motive meines Textes in Ihrer Composition zu verfolgen; aber ich vergaß das bald, so wurde ich von der Musik bezaubert.»
1902, im Jahr der Uraufführung, schreibt Schönberg über die Arbeit des musikalischen Phantasierens der alten Meister über einen poetischen Gedanken, «bis sie ihm alle möglichen Stimmungen und Bedeutungen abgewonnen – fast möchte ich sagen: bis sie ihn analysiert hatten.»
Selten erwähnt sind jene Frauen, die Schönbergs Schaffen nicht zuletzt finanziell unterstützt haben: 1904 bekam er eine Zuwendung der Stiftung der Schwestern Fröhlich – jener Damen, die mit Grillparzer in der Spiegelgasse lebten - über 1.000 Kronen. Anna Fröhlich war als Gesangsprofessorin am gerade neu gegründeten Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde tätig und Josefine Fröhlich war Walzer-Komponistin und eine international renommierte Opernsängerin. Die Stipendien der Mahlerstiftung in den Jahren 1913, 1914 und 1918 gehen auf die Initiative von Gustav Mahlers Witwe Alma zurück, der es gelang, weitere Bekannte als Mäzen:innen zu gewinnen. Spät entdeckt und dokumentiert wurde Almas zeitweilige Freundin Lilly Lieser, die Schönberg in den Jahren des Ersten Weltkriegs auf großzügige Weise mit einer monatlichen Zuwendung, der Gratis-Unterkunft in der Villa in der Gloriettegasse, Urlaubsangeboten am Semmering und dem Kauf eines Harmoniums ihre tiefe Verehrung zeigte. Er wusste es nicht zu schätzen, sie wandte sich nach seinen unflätigen Beschimpfungen elegant ab. Schönbergs Schicksal eines Exilanten und sein schwieriger Neuanfang in Los Angeles stehen jenem seiner Mäzenin Lilly Lieser gegenüber. Sie wurde von ihrem Palais in der Argentinierstraße ins KZ Riga deportiert, fristete dort zwei Jahre lang ihr Dasein, um schließlich in Auschwitz ermordet zu werden. Mitleidende aus Wien haben Zeugnis von ihr. Vor ein paar Jahren gelang es, Lieser einen Stolperstein zu widmen. Noch ist keine Gasse, kein Platz, kein Konzerthaus nach ihr benannt, nach dieser Frau, die die Verantwortung für die Kunst ihrer Zeit wahrnahm, die sie durch ihren Wohlstand hatte.
Die Geschichte des Exils endet nicht bei den Musikschaffenden. Der Klang des Exils ist vielschichtiger, als es eine Partitur zeigen kann.