Composer in Residence 2024
Enno PoppeVeröffentlicht: 02/11/2023
Herr Poppe, was waren die wichtigsten Weichenstellungen und Momente auf dem Weg dorthin, wo Sie heute sind?
Wichtig war bestimmt, dass ich aus einem musikalischen Elternhaus stamme. Es gab bei uns viele Partituren und ich bin mit dem Westdeutschen Rundfunk aufgewachsen, der auch viele Sendungen mit Neuer Musik ausstrahlte. Ich war immer auf viele Dinge sehr neugierig. Das habe ich mir glücklicherweise erhalten. Zweitens denke ich, dass ich von meinen Studienkolleg:innen oft mehr gelernt habe als von den Lehrer:innen. Die vielen Diskussionen und ihre Fortsetzungen über mehrere Tage hinweg – davon habe ich viel mitgenommen. Das Studium war auch freier angelegt, als es heute möglich ist. Wir konnten studieren, solange wir es für richtig hielten. Und als Drittes würde ich meine Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1990 nennen, ein Jahr nach der Wende. Die Stadt war ein komplett verrückter Ort mit überraschenden Dingen, die man so noch nie gesehen hatte.
Sie haben einmal erzählt, dass Sie schon sehr früh bewusst in Richtung Neue Musik gegangen sind und mit dem historischen Repertoire nicht so viel anfangen konnten. Wo ziehen Sie die Grenze? Ab wann ist es historische Musik?
Das kann man sicher unterschiedlich definieren. Ich weiß, dass mich meine erste Begegnung mit einem Stück von Stockhausen im Radio sehr überzeugt hat. Da dachte ich: So muss Musik klingen. Wenn man ein Jugendlicher ist, dann gibt es ja nicht den Gegensatz zwischen Alter und Neuer Musik, sondern zwischen Popmusik und Musik, die nicht Pop ist. Ich musste mich nie dafür rechtfertigen, warum ich nicht wie Mozart schreibe, wohl aber dafür, warum ich keine Jazz-Standards komponiere. Und in dem Zusammenhang war es sogar einfacher zu sagen, dass ich mich mit Stockhausen beschäftige anstatt mit Brahms. In anderen Kunstsparten funktioniert es ja auch so. Niemand studiert jahrelang Rembrandt, um sich erst danach der modernen Kunst zuzuwenden, sondern beginnt gleich mit der Kunst der Gegenwart.
Was ist das größte Missverständnis über die Neue Musik, welches Sie gerne aufklären möchten?
Dass die Neue Musik «verkopft» oder unsinnlich sei. Das Wort «verkopft» mag ich an sich schon nicht, denn unser Kopf nimmt alle Sinneswahrnehmungen und Gefühle auf. Es geht bei der Neuen Musik immer um das Sinnliche, neue Erfahrungen, die unser Leben weiterbringen.
Was bedeutet Ihnen das Orchester? Wie steht es im Verhältnis zu den anderen Möglichkeiten des Musikmachens?
Lange habe ich einen Bogen um das Orchester gemacht, weil ich es problematisch fand. Aber das hat sich geändert, weil die Orchester selbst anders geworden sind. Es gibt viele fantastische Musiker:innen, die schon in ihrer Ausbildung viel mit Neuer Musik in Berührung gekommen sind und die richtig Lust darauf haben. Ich möchte mit Leuten zu tun haben, die das, was sie spielen, auch wirklich mögen. Und dann wird ein Orchester natürlich zum wertvollen Kulturgut, denn ich kann mit 100 Musiker:innen mehr machen als mit nur drei Instrumenten.
Darf ich Sie mit einem Satz konfrontieren, den Sie vor mehr als 20 Jahren sagten: «Spontanität ist mir suspekt.» Ist es dabei geblieben?
Den Satz habe ich damals provokativ gemeint. Wenn ich eine Idee habe, dann lasse ich sie nicht einfach raus und betrachte sie als fertig. Ich will Ideen überprüfen, was mir eine Woche, einen Monat oder ein Jahr später noch dazu einfällt. Das ist etwas völlig anderes und das wollte ich damit sagen: Es gibt die Notwendigkeit von Ideen, aber auch die Notwendigkeit, mit ihnen zu arbeiten. Wenn ich spontan bin, kann ich das Potenzial einer Idee womöglich noch gar nicht erkennen.
Wie entstehen die kurzen, oft einsilbigen Titel, die ihre Werke aufweisen?
Ich bin am Klang und an der physischen Qualität der Musik interessiert. Darum gibt es bei mir wenige Hinweise auf etwas Metaphysisches. Eine Regel für die Titel habe ich nicht, ich möchte sie aber auch nicht gerne erklären. Die Assoziationen mit der Musik stehen im Mittelpunkt, dabei ist der Titel ja nur ein Angebot. Kurz gesagt: Für einen Titel brauche ich 15 Minuten, für das Stück aber ein halbes Jahr.
Worauf freuen Sie sich in Grafenegg 2024?
Ich freue mich auf das ganze Paket: Die Atmosphäre ist einzigartig, der Park mit den alten Bäumen und den Konzerten unter freiem Himmel. Dass ich mich hier die ganze Zeit aufhalten werde, darauf freue ich mich.
Was raten Sie schon jetzt den Komponist:innen, mit denen Sie bei Ink Still Wet zusammenarbeiten werden?
Ich würde sie gerne dazu ermuntern, etwas auszuprobieren und etwas Verrücktes zu machen. Man muss nicht auf das große Meisterwerk hinarbeiten, alle haben Freiräume. Man darf gerne erkennen, dass sie etwas entdecken wollen und etwas Neues schaffen wollen.